52. Herbst 2014: Am Ende der Milchstrasse? Lebenswerte Regionen durch Landwirtschaft (Lindlar)

  • Posted on: 28 December 2014
  • By: Ann

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3.-5. Oktober 2014 in der Jugendherberge Lindlar im Bergischen Land

„Dies ist das erste Mal, dass alle Teilnehmer schon vor Beginn des Workshops angekommen sind.“ Diese fröhliche Bemerkung einer Teilnehmerin bildete den Auftakt zum Agrecol-Workshop „Ende der Milchstraße: Lebenswerte Regionen durch Landwirtschaft“, der vom 3.-5. Oktober 2014 in der JH Lindlar stattfand. Vergessen all der Stress der vorhergehenden Tage, als herauskam, dass die im Januar herausgesuchten Busse so nicht mehr fuhren und ein Reiterhof, der am Samstag eine Workshop Gruppe empfangen wollte, unerwartet abgesagt hatte. Alle 14 Teilnehmer waren gut in der Jugendherberge angekommen und auch mit dem Wetter hatte das Organisationsteam (Evelyn Mathias, Wolfgang Bayer, Armin Kraus, Jochen Currle, Ann Waters-Bayer, Sibylle Pich, Thomas Becker und Susanne Hofmann-Souki) riesiges Glück: drei Tage lang viel Sonne und herbstliche Wärme. Schade nur, dass drei der Mitorganisatoren (Wolfgang, Ann und Susanne) nicht dabei sein konnten!

Die folgenden Abschnitte geben einen Abriss der Vorgeschichte, des Workshop-Ablaufs sowie der wichtigsten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen.

 

Vorgeschichte 

 

Der Auslöser war die Bachelorarbeit von Armin Kraus über „Indikatoren einer sozial nachhaltigen Landwirtschaft”, in der er fünf verschiedene Indikatoren Systeme gegenüberstellt (siehe http://ageconsearch.umn.edu/bitstream/156257/2/Poster6-Kraus-Indikatoren_c.pdf für eine Zusammenfassung). Sowohl Armins Arbeit als auch die dadurch stimulierten Diskussionen innerhalb der Vorbereitungsgruppe zeigten die viele Facetten der sozialen Nachhaltigkeit und die Schwierigkeiten, sie gegenüber ihren Schwester-Themen der ökologischen and ökonomischen Nachhaltigkeit abzugrenzen.

So kristallisierte sich im Verlauf der Zeit der Fokus des Workshops weg vom ursprünglich gewählten Thema „soziale Nachhaltigkeit“ hin zu dem Fragenkomplex:

  • Was macht eine Region lebenswert, was kann die Landwirtschaft dazu beitragen?

  • Welche Art von Landwirtschaft leistet die größten Beiträge auf diesem Gebiet

  • Wird es diesen Typ von Landwirtschaft auch in Zukunft geben oder ist das Ende der Milchstraße in Sicht?

Durch das Dazustoßen von Silke Stöber, einer Agrarwissenschaftlerin von der Humboldt-Universität Berlin und Mitbegründerin des „Brandenburgischen Netzwerkes für Lebendige Dörfer“, kam ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich der des „lebendigen“ Dorfes – ein Dorf, in dem es möglichst viele Funktionen vor Ort gibt (Laden, Bäckerei etc.) und in dem die Bürger viel miteinander kommunizieren und gemeinsame Werte haben.

Workshopübersicht 

 

Hier können Sie sich die Programmübersicht herunterladen.

Nach der Vorstellungsrunde und Erklärungen zum Hintergrund des Workshops durch Jochen gab Armin eine Einführung ins Thema auf der Grundlage seiner Bachelorarbeit: Lebenswerte Regionen durch Landwirtschaft. Evelyn folgte mit einer Übersicht über die für Samstag geplanten Feldbesuche. Nach dem Abendessen ging’s mit der Agrecol-Inforunde weiter: Paul berichtete über Writeshops, Christine Martin über ihre Erfahrungen in Äthiopien und Jochen über eine Studie über die Umsetzung des Wertschöpfungsketten-Konzepts in der Entwicklungshilfe.

Der nächste Tag begann mit zwei Vorträgen. Silke beleuchtete die Beiträge der Landwirtschaft zur Entwicklung lebenswerter Regionen anhand ihrer Studie über Wege zu lebendigen Dörfern in Brandenburg. Evelyn gab einen kurzen Überblick über die Landwirtschaft und Regionalentwicklung im Bergischen Land. Während der Vorträge waren auch drei Teilnehmer aus dem Bergischen dabei, die die rege Diskussion mit Erfahrungen aus der eigenen Region bereicherten.

Danach ging’s in Gruppen zu drei Initiativen, die verschiedene Einblicke in die Beiträge der Landwirtschaft zur Regionalentwicklung im Bergischen Land erlaubten: 

1.     Klosterhof Bünghausen: ein diversifizierter Biohof, der auch die Geschäftsstelle von Bergisch Pur ist, einem aktiven Verbund von über 55 Erzeugern, Verarbeitern und Vermarktern aus dem Bergischen Land.

2.     Spezialisierter Milchbauer im Milchdorf Lendringhausen: Das Milchdorf ist Teil einer Regionalentwicklungsinitiative vom Landschaftsverband Rheinland und anderen Partnern; die drei involvierten, auf Milchproduktion spezialisierten Bauernhöfe sind Gegenstand und Kulisse für den „Milchweg“, angelegt für heimische Wanderer, Touristen und Schulklassen.

3.     Dorfladen Thier: Eine Bürgerinitiative, die sich in einen kleinen, wohlbestückten Supermarkt mitten auf dem Lande entwickelt hat; der Laden wird von einer Genossenschaft von über 170 Mitgliedern getragen und ist Ausgangspunkt für weitere Gemeinschaftsaktivitäten.

Alle drei Anlaufstellen empfingen die Agrecol-Teilnehmer äußerst freundlich (wie überhaupt mehrere Teilnehmer über die Freundlichkeit der Leute im Bergischen bemerkten). Nach der Auswertung der Felderfahrungen trugen Workshop Teilnehmer und drei Gäste aus dem Bergischen mit der „Worldcafé“ Methode Faktoren zusammen, die aus ihrer Sicht zu einer attraktiven Region gehören.

Am letzten Tag wurde in Gruppen diskutiert, was das Gelernte für unsere internationale Arbeit bedeutet. Den Abschluss des Workshops bildeten zwei Fallstudien: Thomas beschrieb „Plattsalat“, ein bio-VerbraucherInneninitiative im Stuttgarter Raum, zu der mittlerweile drei eigenständige Läden im Stuttgarter Raum gehören. Jochen stellte die Öko-Erzeugergemeinschaft „Alb-Leisa“ vor, die auch Ziel des nächsten Agrecol-Frühjahrstreffen (14.-17. Mai 2015) sein wird. Dort soll es darum gehen, wie eine eher unkonventionelle bäuerliche  Innovation eine Dynamik auf vielen Ebenen ausgelöst hat, von der verstärkten bäuerlich-universitären Forschung an einer Feldfrucht, die in der Region eine Generation lang nicht mehr angebaut wurde, über den Aufbau einer neuen Wertschöpfungskette bis zur Entwicklung eines Identifikationskernes, auf den sich im regionalen und überregionalen politischen Diskurs immer wieder bezogen wird.

Erkenntnisse und Schlussfolgerungen 

 

Auch wenn es am Ende des Workshops mehr Fragen gab als Antworten, so konnten die Teilnehmer doch zahlreiche Einsichten und Denkanstöße mit nach Hause nehmen. Die Vorträge, Feldbesuche und zahlreichen Diskussionen haben deutlich gemacht, dass dörfliche und ländliche Entwicklung ein dynamischer Prozess ist, bei dem der Wandel das einzig Beständige ist. Und dass es keine eine-für-alle Lösung gibt.

Um aus einem schlafenden ein lebendiges Dorf zu machen, bedarf es in der Regel eines Auslösers oder einer Gelegenheit, wie z.B. eine Persönlichkeit oder Gruppe mit einer Vision, eine Idee, eine Notwendigkeit wie z.B. die Reparatur des Kirchendachs, oder eine Projektausschreibung wie z.B. das derzeitige Leader-Programm der EU. Weitere wichtige Zutaten sind engagierte Bürger mit sozialer Kompetenz und eine kritische Masse von Mitmachern, partizipative Methoden, Kommunikation und Vernetzung. Und ein Platz, wo man sich treffen kann. Von Bürgern angestoßene Initiativen können von staatlicher Unterstützung und Anerkennung profitieren.

Staatliche Projekte und Initiativen können außerdem den Stimulus für regionale und lokale Projekte liefern und deren Rahmen vorgeben. Aber es bedarf unbedingt auch der genuinen Partizipation und das Engagement der Bürger in den betroffenen Dörfern und Regionen, damit sie nachhaltig lebendig werden. Wie das Beispiel des Milchdorfs zeigt, können staatliche Initiativen, in denen Dörfer und ihre Bewohner hauptsächlich als Kulisse und Statisten dienen, zwar den Tourismus in einer Region ankurbeln, führen aber nicht unbedingt zu lebendigen Dörfern. Es fragt sich, ob dies auf Dauer nicht auch die Touristenzahlen wieder sinken lässt.   

Während der Landwirtschaft bei der Gestaltung des ökologischen Lebensraums (Landschaft, Luft und Wasser) eine Schlüsselrolle zukommt, sind ihre Beiträge auf sozialem Gebiet nicht unbedingt die wichtigsten Faktoren, die eine ländliche Region attraktiv für Jung und Alt machen können. Andere und vielleicht wichtigere Faktoren sind z.B. Infrastruktur, Verdienstmöglichkeiten und Zugang zu Bildung. Nichtsdestotrotz können landwirtschaftliche Betriebe in vieler Hinsicht wertvolle Beiträge leisten durch: Direktvermarktung von verschiedenen Produkten, Felder zum Selberernten, Hoffeste, Hofläden, Hofcafés, Käsereien (neuerdings mobil!), Reitbetriebe, das Einstellen von Gastpferden und die Aufnahme von Feriengästen.

Diese Beiträge scheinen besonders oft, aber nicht ausschließlich, von diversifizierten Höfen erbracht zu werden, die sowohl bio als auch nicht-bio sein können. Oft durch Außenseiter und Quereinsteiger betrieben, erscheinen sie untereinander und mit regionalen Initiativen gut vernetzt. Spezialisierte Landwirte sind selten in solchen Netzwerken zu finden, können aber in ihrer Umgebung trotzdem wertvolle soziale Beiträge leisten, wie z.B. unentgeltliches Schneeräumen und andere Nachbarschaftshilfe. Gerade solche Beiträge sind bei fast allen Landwirten, egal welcher Art und Größe ihr Betrieb ist, selbstverständlich, wenn natürlich auch weniger spektakulär als ein Hofladen, Bauerncafé oder Kinderfest. Strukturell wurde jedoch deutlich, dass der Mainstream der Entwicklung in der Landwirtschaft hier in Deutschland (größer, spezialisierter) die Betriebe in der Region eher entkoppelt, sie aus lokalen und regionalen Prozessen und Beziehungen heraus löst. Zeichen dafür sind, dass die lokalen oder regionalen Märkte für die erzeugten Produktmengen völlig inkompatibel sind, dass im verstärkten Wettbewerb um Land benachbarte Landwirte in weit stärkerem Maße als Konkurrenten wahr genommen werden und die Anzahl derer, die sich durch die landwirtschaftlichen Tätigkeiten gestört fühlen, zwangsläufig zunimmt (immer mehr Personen wohnen an den Flächen des einen Betriebes, der gerade diese Woche Gülle fährt oder in der Erntekampagne Tag und Nacht die Maschinen fahren lässt). Auch hier gilt, dass die einzelnen Landwirte solche Belästigungen in der Regel zu minimieren  versuchen, damit aber vor allem die Effekte abmildern können.

Die Erfahrungen aus einer Region lassen sich nicht eins-zu-eins auf andere Regionen übertragen. Das ist schon innerhalb Deutschlands so, geschweige denn in Ländern, die eine völlig andere Kultur, oder sogar eine Vielfalt davon haben. Daher sollte am Anfang von Entwicklungsprojekten für lebendige Dörfer eine detaillierte Analyse stehen. Weitere wichtige Faktoren für den Erfolg solcher Projekte sind die bereits genannten: soziale Kompetenz der Beteiligten, partizipative Methoden, Kommunikation und Vernetzung, und ein Raum, in dem man sich treffen kann.

 

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